Reiz der Heimatgeschichte

Im Rahmen der SÜDKURIER-Serie „Auf einen Kaffee mit …“ sprach SÜDKURIER-Redakteurin Kirsten Schlüter am 6. Januar 2011 mit Rainer Meschenmoser vom Delphin-Kreis in Konstanz bei einem Capuccino im Café Wessenberg über regionale Geschichte.

 

Herr Meschenmoser, im Delphin-Kreis haben sich fünf Männer bislang fast 30 Jahre lang getroffen, um die regionale Geschichte aufzuarbeiten. Worin liegt der Reiz?

 

Der Reiz liegt vor allen Dingen an der Geschichte selber, an der Geschichte unserer Heimat. Wir haben zuerst mit der Erforschung der Stadtgeschichte angefangen. Dann haben wir die Themen erweitert und haben die Grenze in die nahe Schweiz und dann nach Westen in den Landkreis Konstanz überschritten. Das ist unser Beobachtungsgebiet. Faszinierend sind für uns Objekte und Themen, die von professionellen Historikern nicht angenommen werden. Wer kennt zum Beispiel den Stadtteil Ergatshausen, wer kennt den Königsbau und seine Geschichte, wer weiß, wann und wie diese Gebiete besiedelt wurden, was da für Menschen gelebt haben und was ihre Beweggründe waren, dort hinzusiedeln? Diese Fragestellungen wollten wir beantworten und bieten unsere Erkenntnisse der Leserschaft an. Wir möchten unserer Heimat damit ein kulturelles Geschenk machen.

 

Das gelingt ja auch. Von den zehn Büchern, die inzwischen erschienen sind, sind sieben oder acht vergriffen. Ziehen die Leser sich umso mehr in den Mikrokosmos Konstanz und Umgebung zurück, je komplexer das globale Geschehen wird?

 

Das ist gut möglich. Aber abgesehen vom Inhalt versuchen wir auch, unsere Abhandlungen für den Normalbürger lesbar zu machen und sie nicht im akademischen Stil zu schreiben. Die Artikel sind für jedermann gedacht und nicht nur für professionelle Historiker.

 

Der Delphin-Kreis besteht aus fünf ganz unterschiedlichen Menschen. Was hält Sie schon so lange zusammen?

 

Das ist ja gerade das Spannende an der Sache. Fünf Gleichartige wären sicherlich nicht zusammengeblieben, sondern das Belebende war, dass wir uns durch die unterschiedlichen Charaktere ergänzt haben. Wir haben uns gegenseitig zu Themen angeregt. Hätten sich zum Beispiel fünf Physiker zusammengetan, wären deren Themen in die Tiefe gegangen statt in die Breite. Das wäre langweilig geworden. Am Anfang haben wir uns nur getroffen, um Gespräche zu führen und Informationen auszutauschen. Dann gab es mal eine Krise. Wir wollten nicht nur ein Männerschwätzclub sein, der zusammenkommt, um zu parlieren, sondern wir wollten etwas Konkretes machen. Dann kam der Gedanke auf, dass wir unsere Untersuchungen auch in irgendeiner Form präsentieren könnten. So kam es zur Veröffentlichung der Delphin-Bücher. Wir hatten das Glück, mit Herrn Laubach vom damaligen SÜDKURIER-Buchverlag einen Partner zu finden, der ein offenes Ohr hatte. Die ersten drei Bücher wurden dann auch vom SÜDKURIER-Buchverlag verlegt. Danach fanden wir mit Thomas Willauer einen mutigen Verleger, der 1995 ab Band 4 die Buchreihe herausgab, um in der Heimatstadt seines Verlags einer selbst auferlegten kulturellen Verpflichtung nachzukommen.

 

Warum nennen Sie sich Delphin-Kreis und haben nie einen Verein daraus gemacht?

 

Wir sind eine lockere Gesprächsrunde und wollten generell keinen Verein gründen. Jede Institutionalisierung ist der vorzeitige Tod einer kleinen Gemeinschaft, weil dann auch Ämter zu verteilen sind. Und da gibt es schon mal Kämpfe, wer Vorsitzender, Kassier oder Fahnenwart ist, das wollten wir nicht. Wir wollten ein Freundeskreis bleiben, ohne Bindung, wo jeder kommen oder gehen kann wie er will. Und zum Namen: Wir nennen uns Delphin-Kreis, weil wir von Beginn an in einem Gebäude getagt haben, das Haus zum Delphin genannt wird. Das Haus gehört unserem Freund und Gönner Werner Schupp, der uns einen Raum in der Hussenstraße 14 zur Verfügung stellt. Nach einiger Zeit hieß es dann bei Terminabsprachen: ‚Wann gehen wir wieder zum Delphin?’ So wurde aus uns der Delphin-Kreis. Wir werden aber immer wieder gefragt, ob wir Delphine züchten oder Delphinfreunde sind.

 

Wie kamen Sie selbst zur regionalen Geschichte?

 

Als geborener Konstanzer habe ich mich schon seit meiner frühen Jugendzeit für Geschichte interessiert. Erst faszinierte mich die allgemeine Geschichte, später verstärkt die Siedlungsentwicklung von Stadtteilen und die heimische Wirtschaftsgeschichte. Mit ausschlaggebend war damals mein langjähriger Arbeitskollege und Freund Immo Göpfrich, der mich mit seinen umfassenden Kenntnissen dazu inspirierte. Seit etwa 30 Jahren gilt meine besondere Vorliebe den Feld- und Wegekreuzen, Bildstöcken und Kapellen im gesamten Landkreis Konstanz. Dazu kam wenig später die Geschichte des Brauwesens, also die Groß-, Mittel- und die Hausbrauereien, die es ja heute fast alle nicht mehr gibt. Früher gab es an die 300 solche Stellen im Landkreis Konstanz, jede größere Gastwirtschaft hatte eine eigene Hausbrauerei. Seit etwa fünfzehn Jahren interessiere ich mich auch für die ehemaligen Mühlen im heutigen Landkreis. [Eine erstmalige Zusammenstellung (fast) aller einstigen Mühlen im Landkreis Konstanz ist im DelphinBuch 10, Kapitel „Es klappert die Mühle …“, aufgeführt].

 

Wie kommen Sie auf Ihre Themen?

 

Meine Themen für das Delphinbuch entstehen meist durch Seitentriebe vorangegangener Untersuchungen, die ich dann ähnlich wie mein Freund Gernot Blechner für eine spätere Bearbeitung einfach mal aufbewahre. Daraus entwickeln sich unversehens Riesenprojekte. Manche davon haben später professionelle Geschichtsvereine auch als erforschenswert aufgegriffen. Wenn mich ein Thema gepackt hat, setzt eine intensive Vorarbeit anhand von Karten und Archivmaterial ein, gefolgt von zahlreichen Besuchen in den Archiven, Exkursionen und Gesprächen vor Ort. Die Gespräche, die man unter Profis mit Oral History bezeichnet, führe ich besonders gern. Ich kenne dabei keine Beendigung eines Themas. Ich werde eigentlich immer gezwungen, eine Art Momentaufnahme einer laufenden Untersuchung zu machen, weil ich eine Untersuchung nie für beendet halte. An dem Mühlenthema arbeite ich jetzt schon seit 10, 15 Jahren. Momentan faszinieren mich auch die Torkel in Konstanz. Es gab hier vor dem Schwedensturm 40, 50 Torkel. Heute gibt es vielleicht noch drei, vier, fünf. Wo waren die anderen? Weiß ich noch nicht. Ich habe im Archiv nur schwerlich Unterlagen über abgebrochene oder abgebrannte, zerstörte Torkel bekommen. Die Standorte interessieren mich.

 

Besteht nicht die Gefahr, dass man sich verzettelt, wenn man ein Thema liebt?

 

Verzetteln eigentlich nicht, aber man verzweifelt manchmal, weil man gerade bei persönlichen Gesprächen unterschiedliche Aussagen erhält. Dann geht man noch stärker auf das Thema ein. Dabei geht ziemlich viel Zeit drauf, aber das ist spannend wie ein Kriminalroman.

 

Was war die Erkenntnis in all diesen Jahren, die Sie am meisten überrascht hat?

 

Überrascht hat mich, dass viele Themen, zum Beispiel Kleindenkmale im Landkreis, viel zu selten beachtet wurden. Dass auch in Veröffentlichungen nicht immer näher auf die Themen eingegangen wird. Das ist schade, weil man doch Geschichte erleben kann und soll. Denn nur wer sich mit der Geschichte beschäftigt, der kann auch den Wert von Gegenständen bewerten und zu gegebener Zeit um ihren Erhalt streiten. Man muss also dem Bürger einer Stadt zeigen, welchen Wert Objekte haben. Sonst passiert dasselbe wie in den 1950er-Jahren, als Wegkreuze einfach weggeräumt und auf den Müll geschmissen wurden, wenn Straßen verbreitert wurden. Heute ist es zum Glück so, dass man Feldkreuze zwar entfernt, sie aber renoviert und irgendwo anders wieder aufstellt, wie hier am Salzberg oder am Reichenaudamm. Das finde ich gut. Es ist natürlich auch eines unserer vielen Anliegen, eine Sensibilität bei den Lesern zu entwickeln, damit sie für den Erhalt von Objekten kämpfen. Ein Beispiel ist das kürzlich abgebrannte Eckhaus. Es wäre schade, wenn an der Kanzlei-/Hussenstraße ein modernes neues Haus mit großen Fensterflächen in Klinkerbausteinweise entstehen würde, das nicht nach Konstanz passt, sondern an die Nord- oder Ostsee.

 

Können Sie überhaupt noch unbedarft durch die Stadt gehen oder entdecken Sie an jeder Ecke neue Forschungsthemen?

 

Unbedarft kann ich weder durch die Stadt noch durch den gesamten Landkreis gehen. Wenn ich zum Beispiel vor einem Haus stehe, sinniere ich, wie das Leben dort wohl vor 50, vor 100, 200 oder 400 Jahren war. Welche Leute haben drin gelebt? Wie haben sie gearbeitet? Welche Nöte hatten sie? Man sollte mal eine Zeitmaschine erfinden, damit wir uns für ein paar Augenblicke zurückversetzen könnten.

 

Wie geht es nach dem Tod des Mitglieds Dieter Städele mit dem Delphin-Kreis weiter?

 

Selbst wenn nach Dieter Städeles Tod im August 2010 die restlichen vier Delphiner die Kraft aufbringen würden, die Buchreihe fortzusetzen, müsste der Kreis sich unbedingt verjüngen. Ginge das gut? Nicht einmal die monatlichen Sitzungen waren Arbeitssitzungen, sondern gesellige Zusammenkünfte von fünf Personen, die sich von Zeit zu Zeit darüber wunderten, dass sie wieder genügend Stoff für ein Buch zusammengebracht hatten. Wie soll in solch einem Kreis ein Neuling, sogar möglichst jung an Jahren, hineinwachsen? Aber lassen Sie sich überraschen, vielleicht gibt es doch noch weitere Bände. Vereinzelt haben sich schon Interessenten gemeldet. Wir könnten aber auch den gleichen Weg wie bislang weitergehen und uns für die Delphinbücher mit Gastautoren bedienen. Dabei legen wir großen Wert darauf, dass auch die Schweizer Nachbarschaft integriert ist.

 

Ein neues Buch wird es also vielleicht geben, aber was geschieht mit dem Delphin-Kreis?

 

Den Delphin-Kreis wird es sicherlich weiter geben, in welcher Form auch immer. Bezüglich weiterer Bücher müssen wir uns demnächst intern absprechen. Das hat sich bislang verzögert, weil Gernot Blechner seit Oktober im Krankenhaus lag und sich jetzt in der Reha auf dem guten Weg der Besserung befindet. Sobald er wieder mobil ist, werden wir entscheiden, wie es weitergeht und ob wir wirklich ein paar Neue aufnehmen. Der Wille zum Weiterbestehen ist jedenfalls da.

 

Quelle: SÜDKURIER vom 10.01.2011
Kirsten Schlüter, SÜDKURIER-Redakteurin